19. Juni 2025, 11:21 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Eigentlich erhoffen sich viele Hundehalter durch Kontrolle über Ihren Hund mögliches Problemverhalten zu vermeiden. Doch oft ist genau das Gegenteil der Fall. Wie man lernt, den eigenen Hund weniger zu kontrollieren und ihm mehr zu vertrauen, verrät Hundetrainerin Katharina Marioth.
Manchmal ist zu viel Fürsorge das größte Hindernis. In der Hundetrainingspraxis zeigt sich immer wieder: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. In diesem Artikel möchte ich Ihnen von einem besonders eindrücklichen Fall berichten, der deutlich macht, wie übermäßiges Management und Kontrolle im Alltag mit Hund zu Unsicherheit und Problemverhalten führen können – und wie der Weg zurück zur echten Beziehung gelingt. Es ist eine Geschichte über Angst, Vertrauen, Veränderung – und darüber, wie tief uns unsere Hunde spiegeln können.
Der Fall: Hündin Nala
Nala ist eine einjährige Labradoodle-Hündin – wuschelig, sensibel, charmant. Ihre Halterin, Julia, liebt sie abgöttisch. Vielleicht zu sehr. Denn aus ihrer tiefen Sorge heraus, etwas falsch zu machen oder ihre Hündin Gefahren auszusetzen, hat sich eine kontrollierende Dynamik entwickelt.
Nala ist ständig an der Schleppleine, darf nicht zu anderen Hunden, wird bei jedem Reiz abgelenkt und in ihrem Verhalten permanent korrigiert. Anfangs geschah das aus Angst vor Kontrollverlust – später, weil sich genau dieses Verhalten, das man vermeiden wollte, immer stärker zeigte.
Nala zieht an der Leine, bellt bei Hundebegegnungen, erschrickt bei raschelnden Blättern und ist auch zu Hause kaum zur Ruhe zu bringen. Sie wirkt angespannt, überfordert – und gleichzeitig wie in einer ständigen Erwartungshaltung. Julia ist erschöpft, emotional aufgerieben. Sie sucht Hilfe bei mir – mit der Hoffnung, „dass die Hündin endlich lernt, runterzufahren“.
Analyse: Kontrolle erzeugt Unsicherheit beim Hund
Im Erstgespräch wird schnell klar: Julia meint es gut – aber sie managt jede Sekunde. Sie lebt in einer Art Dauer-Alarmbereitschaft. Jede mögliche Gefahr wird vorausgedacht, jeder Reiz möglichst schnell abgeblockt. Was dabei verloren geht: Nalas Möglichkeit, selbst zu lernen, sich selbst zu erleben und Sicherheit aus sich heraus zu entwickeln. Nala darf nicht wachsen. Sie erlebt sich nicht als kompetent – und wird dadurch immer unsicherer. Ihre Welt wird kleiner, ihre Reaktionen größer.
Ich erkenne: Der Schlüssel liegt nicht im Hund, sondern im Verhalten der Halterin. Es braucht keine neue Technik, keine weitere Korrektur – sondern eine innere Kehrtwende. Gemeinsam beginnen sie, kleine Schritte in Richtung Freiheit zu gehen – unter Anleitung, aber mit Raum für echte Erfahrungen.
Die Wende: Vertrauen statt Kontrolle beim Hund
Es beginnt ganz unspektakulär – mit einem Spaziergang ohne Worte. Ich begleite Julia und Nala in ein ruhiges Waldstück. Die Leine wird lockerer. Der Blickkontakt wird gesucht – nicht erzwungen. Julia lernt, Nala zu beobachten, statt sie zu bewerten. Sie beginnt, ihrer Hündin wieder zu vertrauen.
In sicheren Umgebungen darf Nala freier laufen. Julia übt, Situationen auszuhalten, ohne sofort eingreifen zu müssen. Sie entdeckt, dass Ruhe nicht durch Kommandos entsteht, sondern durch Haltung. Zu Hause verändert sich der Umgang ebenfalls: weniger ständiges Korrigieren, mehr achtsames Begleiten. Rituale werden vereinfacht, Erwartungen angepasst.
Und dann passiert das, worauf Julia insgeheim nie zu hoffen wagt: Nala entspannt sich. Sie beginnt, sich selbst zu regulieren. Sie schnuppert, pausiert, schaut ihre Halterin an – nicht aus Unsicherheit, sondern aus Verbindung. Nala schläft tiefer, bellt weniger, zieht nicht mehr wie besessen an der Leine. Es sind keine Wunder, sondern stille Zeichen einer neuen Beziehungsqualität.
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Was wir daraus lernen können
„Kontrolle gibt dem Menschen ein Gefühl von Sicherheit – dem Hund oft das Gegenteil. Wir müssen lernen, loszulassen – aber mit Struktur und Klarheit.“
Dieser Fall zeigt eindrücklich:
- Weniger Management = mehr Selbstwirksamkeit beim Hund.
- Vertrauen entsteht durch konsequente, ruhige Führung – nicht durch ständige Korrektur.
- Orientierung ist keine Kontrolle, sondern Beziehung.
- Die emotionale Welt des Menschen prägt die Sicherheit des Hundes.
Checkliste: So erkennen Sie, dass Sie Ihrem Hund zu viel sind
- Sie greifen in jede Interaktion Ihres Hundes ein, bevor er selbst reagieren kann.
- Ihr Hund schaut ständig zu Ihnen, aber nicht aus Verbindung – sondern aus Unsicherheit.
- Sie vermeiden konsequent Hundekontakte, neue Umgebungen oder unvorhersehbare Situationen.
- Sie haben das Gefühl, Ihr Hund „kann nichts alleine“ oder „funktioniert nur mit Ihnen“.
- Ihr Hund zeigt auffällig viele Stresssignale (Hecheln, Zittern, Winseln, Übersprungverhalten).
- Ihre Spaziergänge sind von ständiger Anspannung und Planung geprägt.
- Sie fühlen sich erschöpft vom dauerhaften Management – und trotzdem ändert sich nichts.
5 Übungen für mehr Entscheidungssicherheit beim Hund
- Wegkreuzungen selbst wählen lassen: Bieten Sie an Kreuzungen oder Abzweigungen die Möglichkeit, dass Ihr Hund entscheidet, wohin es geht. Beobachten Sie seine Körpersprache – und folgen Sie bewusst seiner Wahl.
- Schnüffelzonen einrichten: Markieren Sie auf dem Spaziergang eine Zone (z. B. ein Waldstück), in der der Hund eigenständig erkunden darf – ohne Leinenimpulse oder Kommandos.
- Reize beobachten lassen: Statt bei Begegnungen (Jogger, Fahrräder, Hunde) sofort abzulenken, bleiben Sie auf Abstand stehen und lassen Sie den Hund schauen. Atmen Sie ruhig, seien Sie präsent. Sicherheit entsteht durch gemeinsames Aushalten.
- Entscheidungen im Haus üben: Lassen Sie Ihren Hund zwischen zwei Liegeplätzen, zwei Spielzeugen oder zwei Wegen im Haus wählen – ohne Eingreifen. Es stärkt seine innere Klarheit.
- Frage statt Befehl: Nutzen Sie eine offene Körpersprache und laden Sie Ihren Hund ein („Magst du mitkommen?“), statt ihn zu dirigieren. Sie werden überrascht sein, wie oft Hunde kooperieren, wenn sie dürfen, statt müssen.
Körpersprache-Signale: So erkennen Sie Entscheidungssicherheit
- Aufrechte Körperhaltung: Der Hund steht locker, aber stabil auf allen vier Pfoten, ohne sich kleinzumachen oder zu ducken.
- Neutrale Rute: Die Rute bewegt sich locker, hängt entspannt oder wedelt leicht, ohne steif oder eingeklemmt zu sein.
- Selbstgewählter Blickkontakt: Der Hund sucht Ihre Nähe oder den Blick, nicht aus Abhängigkeit, sondern weil er Verbindung sucht.
- Erkundungsverhalten: Schnüffeln, sich umsehen, eigenständig Wege wählen – Zeichen für Interesse und kognitive Freiheit.
- Kurzes Innehalten vor Entscheidungen: Der Hund stoppt, schaut kurz, wägt ab – und trifft dann eine Wahl. Das ist gelebte Selbstwirksamkeit.

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Zwischen Angst und Vertrauen liegt die Freiheit
Der Fall Nala steht exemplarisch für viele Mensch-Hund-Teams. Gut gemeinte Überbehütung führt nicht selten zu genau dem Verhalten, das man verhindern wollte. Und manchmal ist der Weg zur Veränderung kein Training, sondern eine innere Reise.
Hundetraining bedeutet deshalb auch, die eigenen Ängste zu reflektieren. Sich zu fragen: Was will ich wirklich – und was projiziere ich auf meinen Hund? Vertrauen entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Mut. Durch die Bereitschaft, nicht perfekt zu sein – sondern echt.
Wenn wir unsere Hunde führen wollen, müssen wir bereit sein, uns selbst zu begegnen. Die Beziehung beginnt da, wo die Kontrolle endet.