
10. Juli 2025, 6:09 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Wie entsteht Kultur – und muss sie immer nützlich sein? Eine neue Studie mit Schimpansen gibt überraschende Antworten. Einige Tiere fingen plötzlich an, Grashalme im Ohr oder sogar im After zu tragen – ganz ohne erkennbaren Zweck. Was zunächst wie eine kuriose Eigenart wirkt, entpuppt sich als Paradebeispiel für kulturelles Lernen unter Tieren – und wirft auch neues Licht auf die Ursprünge menschlicher Rituale.
Schimpansen, die sich Grashalme in Ohren oder After stecken, weil einer angefangen hat und es jetzt alle nachmachen? Klingt bizarr, aber mal ehrlich: Unter uns Menschen gibt es auch den ein oder anderen Trend, der auf Außenstehende recht befremdlich wirken kann. So erging es wahrscheinlich auch den Wissenschaftlern vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik und der Universität Leipzig. Sie machten am Chimfunshi Wildlife Orphanage Trust in Sambia eine bemerkenswerte Beobachtung: Zwei auffällige, aber zweckfreie Verhaltensweisen – das Tragen von Gras im Ohr und im After – verbreiteten sich innerhalb kürzester Zeit in einer Schimpansengruppe.
Die Forscher analysierten, wie diese neuartigen Gewohnheiten entstanden und sich ausbreiteten. Dabei zeigten sie, dass soziale Lernprozesse – nicht etwa individueller Nutzen – im Mittelpunkt standen. Die Studie wurde 2025 im Fachjournal „Behaviour“ veröffentlicht und bietet faszinierende Einblicke in die kulturelle Vielfalt nicht-menschlicher Primaten.
Stecken sich Schimpansen Grashalme ins Ohr als Ausdruck von sozialer Zugehörigkeit?
Traditionell konzentriert sich die Forschung zu Tierkultur auf sogenannte materielle Kultur – also den Gebrauch von Werkzeugen. Dieser bringt einen klaren Überlebensvorteil. Dazu zählt etwa Nussknacken bei Schimpansen oder Werkzeugnutzung bei Krähen. Zunehmend jedoch rückt ein anderer Aspekt in den Fokus: soziale Traditionen ohne erkennbaren Zweck, sogenannte nicht-instrumentelle Verhaltensweisen. Beispiele reichen vom Hand-in-Hand-Gruppieren bei Menschenaffen bis hin zu Spielverhalten bei Kapuzineraffen.
Diese Verhaltensweisen könnten vor allem der sozialen Bindung dienen, wie Edwin van Leeuwen, Forscher an der Universität Utrecht im Wissenschaftsmagazin „Phys.org“ erklärt. „Indem du das Verhalten einer anderen Person kopierst, zeigst du, dass du diese Person bemerkst und vielleicht sogar magst. Es könnte also dazu beitragen, die sozialen Bindungen zu stärken und ein Zugehörigkeitsgefühl innerhalb der Gruppe zu schaffen, genau wie es bei Menschen der Fall ist.“
Bereits 2014 dokumentierten Forscher in Sambia erstmals ein solches Phänomen. Damals begann eine Schimpansin namens Julie, sich Grashalme ins Ohr zu stecken. Ihre Gruppenmitglieder übernahmen das Verhalten – offenbar ohne funktionalen Nutzen. Die aktuelle Untersuchung knüpft genau daran an. Sie dokumentiert nun nicht nur eine Wiederkehr dieser Ohrgras-Tradition, sondern auch die Entstehung einer neuen Variante: dem sogenannten „Grass-in-Rectum“-Verhalten. Beides zeigt: Kultur bei Tieren muss nicht immer praktisch sein – sie kann auch Ausdruck sozialer Zugehörigkeit sein.
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Tiere wurden rein passiv beobachtet
Die Forscher beobachteten 147 Schimpansen in acht Gruppen über einen Zeitraum von rund einem Jahr (Mai 2023 bis Oktober 2024) im Chimfunshi Wildlife Orphanage Trust in Sambia. Der Fokus lag auf einer Gruppe mit elf Tieren, in der sich die zwei nicht-instrumentellen Verhaltensweisen entwickelten: das Einführen von Gras ins Ohr („GIEB“) und in den After („GIRB“).
Die Tiere leben in großen, naturnahen Gehegen, wo sie selbstständig fressen, schlafen und soziale Kontakte pflegen. Die Beobachtungen erfolgten rein passiv – es gab keine Eingriffe in Haltung oder Fütterung. Zur Analyse des sozialen Lernverhaltens setzten die Wissenschaftler ein statistisches Verfahren ein, die sogenannte netzwerkbasierte Diffusionsanalyse (NBDA). Diese Methode untersucht, ob sich ein Verhalten entsprechend der sozialen Beziehungen innerhalb einer Gruppe verbreitet. Das wäre ein klarer Hinweis auf soziale Nachahmung.
Gras im After traf als „neuester Trend“ auf viele Nachahmer
In der untersuchten Schimpansengruppe begannen im August 2023 fünf von acht Tieren innerhalb weniger Tage, sich Gras ins Ohr zu stecken – obwohl dieses Verhalten zuvor nur in einer anderen Gruppe vor zehn Jahren dokumentiert worden war. Kurz darauf trat ein noch nie beobachtetes Verhalten auf: Sechs Tiere führten sich Gras in den After ein.
In den sieben anderen Gruppen mit insgesamt 136 Tieren wurde keines dieser beiden Verhaltensmuster beobachtet – mit Ausnahme von zwei männlichen Tieren, die zur ursprünglichen GIEB-Gruppe gehörten.
Die Netzwerk-Analysen zeigten deutlich, dass sich beide Verhaltensweisen über soziale Beziehungen verbreiteten. Für das Ohrgras-Verhalten wurde ein sozialer Lernanteil von rund 83,6 Prozent geschätzt, für das Aftergras-Verhalten sogar 100 Prozent. Alter und Geschlecht der Tiere hatten keinen signifikanten Einfluss auf die Verbreitung. Die Studienautoren schließen daraus, dass beide Verhaltensweisen nicht durch Zufall oder individuelle Neigung entstanden sind, sondern durch Nachahmung innerhalb der Gruppe – obwohl sie keinerlei ersichtlichen praktischen Nutzen haben.
Gruppendruck könnte eine Rolle bei der Verhaltensübernahme spielen
Diese Studie liefert starke Belege dafür, dass Schimpansen fähig sind, auch vermeintlich sozial „sinnlose“ Verhaltensweisen durch Nachahmung zu übernehmen – ein bisher wenig dokumentiertes Phänomen. Damit stellt sie bestehende Annahmen infrage, nach denen nicht-menschliche Tiere lediglich funktionale Handlungen voneinander lernen.
Stattdessen deuten die Ergebnisse darauf hin, dass auch soziale Zugehörigkeit oder Gruppendruck eine Rolle bei der Verhaltensübernahme spielen können – ähnlich wie bei menschlichen Modetrends oder Ritualen. Die Forschung legt zudem nahe, dass soziale Lernfähigkeit nicht strikt an funktionalen Nutzen gekoppelt ist, sondern ein flexibles Instrument sozialer Dynamik darstellt.
Phänomen bisher nur in Gefangenschaft beobachtet
Bisher wurde das Phänomen, dass sich Schimpansen einen Grashalm im Ohr oder After stecken, nur in Gefangenschaft beobachtet. Die Forscher haben auch eine Vermutung, warum das so ist: „In Gefangenschaft haben sie mehr Freizeit als in freier Wildbahn“, sagt Edwin van Leeuwen. Die Tiere müssen nicht so wachsam bleiben oder so viel Zeit mit der Suche nach Nahrung verbringen. „Warum sie genau diese Sache tun, macht mir eigentlich keine Sorgen. Aber dass sie sich das Verhalten gegenseitig abschreiben, das ist die wichtige Erkenntnis.“
Das eröffnet neue Perspektiven auf die Ursprünge von Tradition und Kultur – nicht nur bei Schimpansen, sondern auch im Kontext der menschlichen Evolution. Die Untersuchung erweitert damit das Verständnis darüber, wie und warum bestimmte Verhaltensweisen in Tiergruppen weitergegeben werden – selbst wenn sie auf den ersten Blick keinen direkten Überlebenswert bieten.
Dienen Grashalme im Ohr bei Schimpansen wirklich keinen Zweck?
Die Studie basiert auf intensiven Beobachtungen unter natürlichen Bedingungen in einem anerkannten Tierschutzprojekt und erfüllt hohe ethische Standards. Ihre Stärke liegt in der Kombination aus qualitativer Dokumentation und quantitativer Analyse mithilfe der NBDA-Methode, die soziale Lerneffekte zuverlässig aufdecken kann. Dennoch bleibt die Untersuchung in einigen Punkten begrenzt: Die genaue Art des sozialen Lernens (z. B. Imitation vs. Aufmerksamkeitsteilung) lässt sich nicht eindeutig bestimmen.
Zudem bleibt offen, ob die Verhaltensweisen tatsächlich keinen verborgenen Zweck erfüllen – etwa zur Reizlinderung im Ohr- oder Analbereich. Allerdings traten keine medizinischen Symptome auf, die solche Funktionen stützen würden. Auch mögliche soziale Vorteile – wie vermehrte Zuwendung – wurden nicht gemessen. Die Untersuchung beschränkt sich auf eine Schimpansengruppe; allgemeingültige Aussagen über andere Populationen sind daher nicht ohne Weiteres möglich.
Ein weiterer Aspekt betrifft alternative Theorien wie die „Zone of Latent Solutions“. Sie gehen davon aus, dass Tiere nicht imitieren, sondern lediglich durch Anregung eigene Verhaltensweisen entwickeln. Die Autoren setzen sich kritisch mit dieser Theorie auseinander, betonen aber gleichzeitig, dass weiteres Langzeit-Monitoring nötig ist, um etwaige Traditionen und deren langfristige Dynamik zu erfassen.

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Fazit: Kultur bei Tieren ist vielfältiger als bislang gedacht
Diese Studie zeigt, dass Schimpansen neue, nicht-funktionale Verhaltensweisen wie einen Grashalm im Ohr zu tragen nicht nur entwickeln, sondern auch durch soziale Nachahmung weitergeben können. Damit stellen sie bisherige Annahmen über die Zweckgebundenheit von Tierkultur infrage. Die Ergebnisse liefern wertvolle Hinweise darauf, wie sich soziale Praktiken – ähnlich wie Moden oder Rituale beim Menschen – auch bei Tieren ausbilden können.
Langfristige Beobachtungen könnten aufdecken, ob sich daraus stabile Traditionen entwickeln und welche sozialen Vorteile sie möglicherweise bringen. Die Forschung verdeutlicht eindrucksvoll: Kultur bei Tieren ist vielfältiger als bislang gedacht – und sie muss nicht immer nützlich sein, um bedeutend zu sein.