
14. Mai 2025, 14:36 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Blätter als Klopapier benutzen oder auf Verletzungen drücken – solche Verhaltensweisen wirken verblüffend menschlich. Eine neue Langzeitstudie aus Uganda zeigt: Schimpansen nutzen Pflanzenteile nicht nur als Hygieneartikel, sondern auch, um sich und andere medizinisch zu versorgen – selbst wenn es sich nicht um Verwandte handelt. PETBOOK-Redakteurin und Biologin Saskia Schneider fasst die spannenden Ergebnisse zusammen.
Dass Affen Stöcker als Werkzeuge benutzen, ist nichts Neues. Nun dokumentierte ein internationales Forschungsteam um die Primatologin Dr. Cat Hobaiter von der University of St. Andrews zum ersten Mal, wie Schimpansen Blätter und andere Pflanzen zur Hygiene und Wundversorgung nutzen. Hauptsächlich ging es in der groß angelegten Verhaltensstudie darum, wie wildlebende Schimpansen im Budongo-Wald (Uganda) mit Verletzungen umgehen. Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin „Frontiers in Ecology and Evolution“ veröffentlicht
Bei der Auswertung von Daten aus über 30 Jahren Beobachtungen an zwei Schimpansengemeinschaften (Sonso und Waibira) beobachteten sie neben der Wundversorgung aber auch Hygieneverhalten, wie das Abwischen von Genitalien. Das eigentlich Spannende war jedoch, dass das Team erstmals nicht nur selbstbezogene, sondern auch auf andere gerichtete Gesundheitsverhaltensweisen wissenschaftlich dokumentierte. Die Beobachtungen liefern faszinierende Einblicke in die evolutionären Ursprünge von Fürsorge und medizinischem Verhalten.
Wie verbreitet ist Hygiene- und Gesundheitsversorgung unter Schimpansen?
Medizinisches Verhalten ist keineswegs auf den Menschen beschränkt. Viele Tierarten betreiben sogenannte Selbstmedikation – etwa durch das gezielte Fressen bestimmter Pflanzen gegen Parasiten. Erst Mai 2024 ergab eine Studie, dass ein verletzter Orang-Utan scheinbar bewusst ein Heilmittel selbst herstellt und seine Wunde selbst damit versorgt (PETBOOK berichtete).
Besonders interessant wird es, wenn Tiere sich nicht nur selbst, sondern auch andere behandeln – sogenannte „prosoziale“ Verhaltensweisen. Bei Schimpansen, unseren nächsten lebenden Verwandten, ist dies besonders aufschlussreich, denn sie leben in komplexen Sozialstrukturen mit wechselnden Gruppenbindungen. Bisher galten prosoziale Gesundheitsverhalten wie Wundversorgung unter Nichtverwandten als selten. Auch dass Schimpansen Blätter und Pflanzenteile auch zur Hygiene einsetzen, wurde bisher wissenschaftlich kaum dokumentiert.
In der aktuellen Studie wollten die Forscher prüfen, wie weitverbreitet diese Verhaltensweisen tatsächlich sind – und ob sie möglicherweise auf empathischen Fähigkeiten beruhen.
Was wurde untersucht – und wie?
Die Studie analysierte das Hygiene- und Gesundheitsverhalten bei wildlebenden Ostschimpansen in zwei Gruppen im Budongo-Wald (Uganda): Sonso und Waibira. Die Datenbasis umfasste:
- Langzeitbeobachtungen (1993–2024),
- Videomaterial aus dem „Great Ape Dictionary“ (über 13.800 Clips),
- freiwillige Fallmeldungen über eine Online-Plattform (CSMAS),
- sowie zwei neue Feldphasen zu je vier Monaten direkter Beobachtung (2021 in Sonso, 2022 in Waibira).
Dabei wurden gezielt selbstbezogene und auf andere gerichtete Gesundheitsverhaltensweisen dokumentiert – etwa Wundpflege, Hygiene (z. B. Genitalreinigung mit Blättern) aber auch das Entfernen von Drahtschlingen (Schlingenfallen). Zusätzlich sammelten die Forscher Pflanzenproben und ließen diese botanisch identifizieren, um mögliche medizinische Wirkstoffe zu erfassen. Alle Forschungen erfolgten mit Genehmigung der ugandischen Behörden und unter Einhaltung tierschutzgerechter Feldpraktiken.
In über 60 Prozent der Fälle des Gesundheitsverhaltens benutzten Schimpansen Blätter und anderes Pflanzenmaterial
Insgesamt dokumentierten die Forscher 41 relevante Gesundheitsverhalten 34 Fälle von Selbstpflege. Etwa 62 Prozent dieser Verhaltensweisen involvierten Pflanzenmaterial. Die Fälle umfassten:
- 23 Wundbehandlungen (z. B. Wundlecken, Auftragen gekauter Pflanzenteile, Blattauflagen),
- eine erfolgreiche Schlingenentfernung sowie
- zehn hygienische Verhaltensweisen wie Genital- oder Afterreinigung mit Blättern.
Zudem wurden in der Studie sieben Fälle von Fürsorge für Mitglieder der Gruppe dokumentiert. Dabei behandelten Schimpansen Wunden anderer durch Lecken, Auftragen von Speichel oder Pflanzen – auch zwischen Nichtverwandten. Zudem beobachteten die Forscher drei erfolgreiche Versuche, anderen Schimpansen eine Drahtschlinge vom Körper zu entfernen. Eine Besonderheit: Auch hygienisches Verhalten – wie die Genitalreinigung nach dem Geschlechtsverkehr – wurde in einem Fall an einem Artgenossen beobachtet.
Besonders bemerkenswert: In mehreren Fällen verwendeten die Schimpansen Blätter von Pflanzenarten, die auch in der traditionellen menschlichen Medizin als wundheilend, antibakteriell oder entzündungshemmend bekannt sind – etwa Niando (Alchornea floribunda), Brennkraut (Acalypha sp.) oder Senna spectabilis.
Einige Verhaltensweisen könnten auf empathischer Wahrnehmung beruhen
Die Studie zeigt erstmals systematisch, dass Schimpansen nicht nur sich selbst, sondern auch andere medizinisch versorgen – unabhängig von Verwandtschaftsbeziehungen. Dies weist auf komplexe kognitive und soziale Fähigkeiten der Tiere hin. Besonders relevant ist, dass einige dieser Verhaltensweisen auf empathischer Wahrnehmung beruhen könnten: Die Schimpansen erkennen offenbar Schmerzen und Bedürfnisse anderer – und handeln entsprechend, selbst wenn es für sie selbst Risiken birgt (etwa durch Infektionsgefahr beim Wundlecken oder bei der Entfernung gefährlicher Drahtschlingen).
Dass einige Tiere gezielt Pflanzen mit bekannten medizinischen Eigenschaften nutzen, lässt auf ein differenziertes Gesundheitswissen schließen. Die Kombination aus Selbstbeobachtung, Erfahrungslernen und möglicherweise sozialem Lernen könnte zur Entwicklung individueller oder gruppenspezifischer Heilstrategien beitragen. Die Beobachtung, dass solche Verhaltensweisen auch bei Nichtverwandten gezeigt wurden, spricht dafür, dass grundlegende Züge von Fürsorge, Mitgefühl und sogar Altruismus evolutionär tief verankert sein könnten – und nicht erst mit dem Menschen entstanden sind.
Bisher noch unklar, wie weitverbreitet prosoziales Verhalten wirklich ist
Die Studie ist die bisher umfassendste Erhebung zu Gesundheitsverhalten bei freilebenden Schimpansen. Dennoch gibt es Einschränkungen: In der Waibira-Gruppe wurden keine prosozialen Pflegehandlungen dokumentiert. Im Grunde wurde dieses Verhalten nur ein einziges Mal beobachtet, als ein Schimpanse Blätter nutzte, um die Genitalien eines Artgenossen nach dem Geschlechtsverkehr zu reinigen. Das bedeutet jedoch nicht, dass solche Verhaltensweisen selten oder kaum stattfinden, sondern beruht vermutlich eher auf der geringeren Beobachtungsdichte. Trotzdem erlaubt die geringe Zahl prosozialer Fälle erlaubt noch keine generalisierenden Aussagen zur Häufigkeit oder Verbreitung im Artenvergleich.
Auch die genaue Wirkung der eingesetzten Pflanzen wurde nicht im Labor überprüft – ihre medizinische Bedeutung stützt sich auf bekannte pharmakologische Daten und ethnomedizinische Quellen.
Offen bleibt zudem, inwiefern die beobachteten Verhaltensweisen durch soziales Lernen innerhalb der Gruppen weitergegeben werden – also ob es so etwas wie medizinische „Kultur“ bei Schimpansen gibt. Dennoch liefert die Studie wertvolle Grundlagen für weiterführende Forschung – etwa zur Rolle von Empathie, sozialem Lernen und Umweltfaktoren bei der Entwicklung von Fürsorgeverhalten.

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Fazit
Diese Langzeitstudie liefert den bislang umfassendsten Überblick über selbst- und fremdgerichtete medizinische Verhaltensweisen bei wildlebenden Schimpansen. Die dokumentierten Fälle von Wundbehandlung, Hygieneverhalten und Hilfe bei Schlingenverletzungen zeigen, dass Fürsorge bei Schimpansen keine Ausnahme ist – selbst gegenüber Nichtverwandten. Diese Erkenntnisse erweitern unser Verständnis von Empathie, Altruismus und den evolutionären Wurzeln menschlicher Medizin.
Dass Schimpansen dafür gezielt bestimmte Blätter und Teile von Pflanzen nutzen, deutet auf ein erstaunliches Gesundheitswissen hin. Künftige Forschungen sollten klären, ob und wie solche Verhaltensweisen sozial erlernt und kulturell weitergegeben werden – und welche Rolle Umweltfaktoren dabei spielen. Für den Artenschutz bieten die Ergebnisse zudem praktische Hinweise: Indem wir die medizinisch genutzten Ressourcen schützen und anthropogene Risiken wie Schlingenjagd minimieren, können wir aktiv zur Gesundheit und zum Überleben dieser faszinierenden Menschenaffen beitragen.