12. Mai 2025, 5:52 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Ding Dong – steht ein Fisch vor dem Tor und möchte rein. Was sich anhört wie der Anfang eines Witzes, ist jedoch alles andere als ein Scherz: In der niederländischen Stadt Utrecht gibt es tatsächlich eine Fischklingel.
Die Fischklingel soll Fischen, die sich auf dem Weg zu ihren Laichplätzen befinden, die Passage einer Schiffsschleuse mitten in der Stadt ermöglichen. Visdeurbel nennen die Niederländer diese Klingel, die inzwischen sogar in Brasilien bekannt ist. PETBOOK erklärt, was es mit der Fischklingel auf sich hat und wie sie funktioniert. Wer möchte, kann übrigens auch selbst die Schelle betätigen.
Fische sind vielzähligen Gefahren ausgesetzt
Wenn die Temperaturen steigen, gibt es für zahlreiche Fischarten kein Halten mehr. Die Natur zwingt sie auf Wanderschaft, hin zu ihren Laichplätzen, um für Nachwuchs zu sorgen. Aale, Lachse und Störe sind die bekanntesten Wanderfische, manche legen sogar tausende Kilometer zurück, um für Nachwuchs zu sorgen. Doch nicht alle Tiere überleben die gefahrvolle Reise. Zahlreiche Fische werden unterwegs von Vögeln und anderen Jägern gefressen. Viele andere scheitern an Hindernissen wie begradigten Flusslandschaften, Anlagen zum Hochwasserschutz und Turbinen. Aber auch, wer nicht solch extrem weite Strecken schwimmen muss, hat auf der Reise oft mit Widrigkeiten zu kämpfen.1
Fischarten wie etwa Hechte, Brassen, Barben und Rotfedern, die meist in ihrer erweiterten Umgebung nach geeigneten Laichplätzen in flacherem, bepflanzten Wasser suchen, stehen mitunter vor verschlossenen Toren. Zumindest, wenn sie durch die niederländische Stadt Utrecht schwimmen. Dort versperrt ihnen eine mehr als 400 Jahre alte Schleuse in der Altstadt den Weg. Damit die Tiere dem Ruf der Natur dennoch folgen können, haben sich die Stadt, Ökologen und die staatliche Wasserbehörde etwas Besonderes einfallen lassen: die sogenannte Visdeurbel, eine Fisch-Türklingel. Sie ist weltweit die einzige ihrer Art, so die Betreiber.
Schleuse versperrt wandernden Fischen den Weg
Utrecht, die viertgrößte Stadt der Niederlande, liegt keine 50 Kilometer von Amsterdam entfernt. Sie ist ebenso wie die bekannte Touristenmetropole von Grachten durchzogen. Doch während es im Sommer auf den Wasserstraßen Utrechts von Einheimischen und Touristen in ihren Booten nur so wimmelt, herrscht in der kälteren Jahreszeit auf den Kanälen Ruhe. Kein Schiff ist dann unterwegs. Dafür ist unter Wasser eine Menge los.
Für zahlreiche der in den Kanälen lebenden Fische beginnt dann die Zeit des Laichens. Karpfen, Plötzen, aber auch Zander und Aale, wie die Seite visdeurbel.nl berichtet, wandern dann durch die Wasserstraßen zum sogenannten Krumme Rijn, einem Nebenarm des Niederrheins. Im Zentrum der Stadt ist für die Tiere jedoch erst einmal Schluss. Die rund 400 Jahre alte Weerdsluis, eine Schiffsschleuse, versperrt ihnen den Weg. Das betagte Konstrukt, das sich ohnehin nur von Hand öffnen lässt, bleibt nämlich im Winter und Frühjahr mangels Schiffsverkehr monatelang geschlossen.
Was zwar in dieser Zeit auf dem Wasser keine Probleme verursacht, da ohnehin niemand unterwegs ist, sorgte unter Wasser in der Vergangenheit regelmäßig für Stau. Vor dem geschlossenen Tor tummelten sich vor allem zwischen April und Mai unzählige Fische, die auf der Suche nach geeigneten Laichplätzen waren. Das Problem dabei: Einerseits müssen die Tiere eine unfreiwillige Pause einlegen und verlieren dabei wertvolle Energie, die sie für Weiterreise und Nachwuchsproduktion benötigen. Andererseits werden sie vor der Schleuse auch leicht zu Opfern von Fressfeinden. So etwa von Kormoranen, anderen Vögeln und Hechten, die zu dieser Zeit ebenfalls unterwegs sind und Hunger haben.
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Stadtschleuse behinderte Fische an Wanderung
Denn Fische, wie Utrechts Stadtökologin Anne Nijs kürzlich gegenüber der Deutschen Presseagentur (dpa) erläuterte, bleibe jedoch keine andere Wahl. Sie müssten diesen Weg nehmen, um zu ihren Laichplätzen zu gelangen. Also hatte sich der Biologe Mark van Heukelum vom Projekt Dutch Wallfish eine Besonderheit überlegt, um den Tieren auf ihrer Reise helfen zu können. 2020, während er an einem anderen Vorhaben zwischen den Wasserstraßen Utrechts arbeitete, bemerkte er, dass im Frühjahr viele Fische auf ihren Wanderungen nicht weiterkamen.
Verantwortlich dafür war die Stadtschleuse, die mangels Schiffsverkehr geschlossen blieb. Auf Nachfrage habe er erfahren, dass der Schleusenwärter die Fische gerne durchlassen würde. Allerdings wisse er gar nicht, wann die Tiere vor dem Tor warten. Aus dieser Frage sei daher die Idee entstanden, eine Unterwasserkamera zu installieren. Mit ihrer Hilfe lässt sich erkennen, ob ein Fisch hindurchgelassen werden möchte.2
Wer Fische sieht, kann klingeln
Im Jahr 2021 war es schließlich erstmals so weit: Die Visdeurbel ging in Betrieb. In Zusammenarbeit mit der Stadt Utrecht und der zuständigen Wasserbehörde hatte van Heukelum jedoch nicht nur eine Unterwasserkamera vor der Schleuse installiert, mit deren Hilfe sich via Livestream erkennen lässt, wer wann vor dem Tor Durchlass begehrt. Eine virtuelle Fischklingel ermöglicht Beobachtern des Streams auch, auf wartende Fische aufmerksam machen zu können.
Dazu drücken sie einfach auf der Seite den entsprechenden Button, und schon „klingelt“ es in Utrecht. Das Prinzip funktioniert wie eine Art umgekehrte Video-Türklingel: Menschen, die den Video-Feed betrachten, klingeln also für die aufgetauchten „Besucher“ vor der Schleuse. Und nicht umgekehrt, wie es ansonsten bei einer Klingel üblich ist.3
2024 klingelten rund 2,7 Millionen Menschen für Fische
Zwischen Anfang März und Ende Mai ist die Klingel geschaltet – wenn die Hauptwanderzeit der Fische und die Schleuse geschlossen ist. Inzwischen ist die Fischklingel (und damit die Stadt Utrecht) weltweit bekannt. Die Website verzeichnet Millionen von Aufrufen aus nahezu allen Regionen der Erde.
Ob in Brasilien, Australien, auf den Philippinen oder in Deutschland – Menschen schauen begeistert zu, was sich in den Grachten Utrechts tummelt. Bereits im ersten Betriebsjahr gab es mehr als 100 000 Klingelzeichen. 2023 zeigten User auf der Plattform TikTok-Videos der Fischklingel. 2024 schauten sich rund 2,7 Millionen Menschen die Bilder der Unterwasserkamera an und klingelten, sobald sie eine Flosse entdeckten.4 5
Es dauert etwa eine Stunde, um das Tor manuell zu öffnen
Allerdings: Klingelknöpfe, das weiß man aus eigener Erfahrung, verlocken geradezu magisch zum Drücken. So verhält es sich auch bei der Fischklingel. Klingelstreiche, so Utrachts Stadtökologin gegenüber der dpa, gebe es daher auch. Deswegen klingelten die Fischfans an den Bildschirmen nicht direkt beim Schleusenwärter, sondern lösten erst einmal aus, dass ein Foto der aktuellen Situation unter Wasser an die zuständigen Ökologen des Projekts geschickt wird.
Erkennen Sie wirklich einen oder mehrere Fische, wird der Schleusenwärter informiert, der dann die alte Weerdsluis per Hand öffnet, um die Wartenden hindurchschwimmen zu lassen. Das allerdings, so Nijs, geschehe nicht für jeden einzelnen Fisch. Denn es dauert etwa eine Stunde, das Tor manuell zu öffnen. Daher muss der Schleusenwärter lediglich ein paar Mal pro Woche kurbeln.
Fische als Indikator für Wasserqualität
Zudem kann die Fischklingel nur betätigt werden, wenn weniger als 1000 Menschen gleichzeitig den Stream sehen. Ansonsten kann nur geschaut, aber nicht geschellt werden. Das Projekt soll helfen, mehr über die Fischarten zu erfahren, die in den Kanälen Utrechts leben, wie die Betreiber mitteilen. Damit könne die Qualität des Unterwasserlebens in der Stadt verbessert werden. Denn Fische seien wichtig für sauberes und gesundes Wasser, wie es in einer Mitteilung des Projekts heißt. „Fische fressen Algen und Kleintiere und tragen so dazu bei, das Wasser im Gleichgewicht zu halten.“
Die Tiere spiegelten auch die Qualität des Wassers wider: Einige Arten etwa können nur in sauerstoffreichem, sauberem Wasser überleben. „Die Fische lassen uns wissen, wie es dem Wasser geht. Wenn bestimmte Arten wie der Hecht gut gedeihen, ist das ein Zeichen für sauberes und gesundes Wasser“, so Gijs Stigter von der Wasserschutzbehörde. Man nutze diese Informationen, um die Wasserqualität weiter zu verbessern.

„Niemand braucht das Riesenaquarium ‚Ocean Berlin‘!“
Videotagebuch und Wissenswertes über Fische
In diesem Jahr ist die Fisch-Türklingel zum fünften Mal aktiv. Wer selbst einmal schauen möchte, was sich unter Wasser so tut, hat in den frühen Abend- und Morgenstunden während der Dämmerung die besten Chancen, denn dann sind laut Betreiber die meisten Fische unterwegs. Aale und Zander dagegen lassen sich wenn überhaupt am ehesten nachts entdecken.
Ab Mitte April ist die Fischwanderung am intensivsten. „Klingel-Erfinder“ und Ökologe Mark van Heukelum berichtet zudem auf der Seite visdeurbel.nl in kurzen Video-Tagebucheinträgen Wissenswertes über die Unterwasserwelt vor der Schleuse, zeigt interessante Sequenzen vorbeiziehender Fische, erklärt Überraschendes über das Wasser an der Schleuse und berichtet über andere Begebenheiten rund um Fische.
In diesem Jahr wirft er in seinem Video-Journal zudem nicht nur einen Blick auf Utrecht, sondern zeigt auch, was in anderen niederländischen Flussdeltas geschieht. Wer die kurzweiligen Videos verfolgen möchte, sollte jedoch gut Niederländisch verstehen oder Englisch lesen können. Auch auf der Seite visdeurbel.nl gibt es Wissenswertes zu dem Projekt, den Fischen in der Gracht und den Menschen hinter dem Projekt. Weitere Videos und Informationen von Dutch Wallfish sind zudem auf Youtube und auf Instagram zu finden.