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Vor der Küste Schottlands

Attackieren Orcas jetzt auch Boote in der Nordsee? Das sagt ein Experte

Nahaufnahme von Orca im Meer schwimmend
Nach den Interaktionen zwischen Orcas vor den Küsten Marokkos, Spaniens und Portugals soll es jetzt auch in der Nordsee ein ähnliches Ereignis gegeben haben. Foto: Getty Images
Porträt Saskia Schneider auf dem PETBOOK Relaunch
Redaktionsleiterin

23.06.2023, 14:04 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten

Nach den Interaktionen zwischen Orcas vor den Küsten Marokkos, Spaniens und Portugals soll es jetzt auch erstmals in der Nordsee zu einem ähnlichen Vorfall gekommen sein. Dabei soll ein Orca ein Boot nahe der Küste Schottlands attackiert haben. Aber handelt es sich dabei wirklich um das gleiche Verhalten wie das der iberischen Orca-Gruppe? PETBOOK sprach mit dem Delfinexperten und Diplom-Biologen Ulrich Karlowski über den Vorfall.

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Einem Orca zu begegnen ist eigentlich etwas ganz Besonderes und viele Leute buchen sogar extra Schiffstouren, um die zu den Delfinen gehörenden Schwertwale aus nächster Nähe beobachten zu können. Doch seit 2020 leidet das Image der Meeressäuger. Denn eine Gruppe von 40 bis 50 Orcas, als Population auch als Orca Iberica bezeichnet, sorgt an der Küste westlich vor Gibraltar bis hoch nach Brest in der Bretagne seit drei Jahren für Aufmerksamkeit. Sie nähern sich Segeljachten und verursachen zum Teil starke Schäden an den Rudern. Mitunter versinken die Boote aufgrund der Schäden. Dieses Schicksal ereilte jüngst auch die Segeljacht „Alboran Champagne“ (PETBOOK berichtete). Nun soll sich ein ähnlicher Vorfall mit einem Orca auch in der Nordsee ereignet haben, wie die britische Tageszeitung „The Gurdian“ berichtete.

Orca rammte wiederholt das Heck des Bootes

Demnach soll ein Orca wiederholt eine sieben Tonnen schwere Jacht in den Gewässern vor den Shetlandinseln Schottlands gerammt haben. Das berichtete Dr. Wim Rutten, ein 72-jähriger niederländischer Physiker im Ruhestand und erfahrener Segler, dem „Guardian“. Er segelte allein von Lerwick nach Bergen in Norwegen und fischte am Heck des Bootes nach Makrelen, als der Orca plötzlich im klaren Wasser auftauchte und das Heck des Bootes rammte.

Immer wieder soll der Wal gegen den Aluminiumrumpf des Bootes geschlagen und dabei „sanfte Stöße“ erzeugt haben. Rutten hätte dabei sofort an die Orca-Attacken vor den Küsten Spaniens und Portugals denken müssen, wie er dem „Guardian“ erzählte. Auch in der Berichterstattung über das Verhalten des Orcas in der Nordsee ist mitunter von „Attacken“ die Rede (USA Today: „Orca attacking boat near Scotland marks first in North Sea, following Iberian coast incidents“) und der „Guardian“ bezeichnet das Geschehen als „ersten Vorfall dieser Art in nördlichen Gewässern“. Aber gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zu dem Verhalten der Orca iberica, von manchen Experten auch als Gibralta-Orcas bezeichnet?

Auch interessant: Biologe warnt: „Den Orca Lolita auf sich allein gestellt freizulassen, wäre eine Katastrophe“

Gibt es einen Zusammenhang zu dem Verhalten der Orca iberica?

Schaut man sich die geografische Lage von Nordsee und Mittelmeer an, erscheint es auf den ersten Blick recht unwahrscheinlich, dass hier ein Austausch zwischen den Populationen der Orcas stattfand. Das sieht auch Ulrich Karlowski so. Der Biologe und Vorstand der Deutschen Stiftung Meeresschutz ist ein Experte für Delfine und sagt gegenüber PETBOOK: „Generell weiß man eher wenig über den Austausch in den Gruppen. Die Gibraltar-Orcas sind als getrennte Population weitgehend isoliert von den atlantischen Orcas.“ Die nächste Gruppe befände sich um die Kanarischen Inseln herum. Es scheine daher eher unwahrscheinlich, dass sich diese Verhaltensweise zwischen den Orca-Gruppen verbreitet habe.

„Das würde ja bedeuten, dass sich Gruppen von Orcas vermischen, miteinander schwimmen und sich das Verhalten gegenseitig zeigen“, führt Karlowski aus. Solch ein Verhalten kenne man von den Orcas eher nicht. „Die treffen sich zwar, bleiben aber eher unter sich.“ Zwar zögen die Orcas auch aus dem Mittelmeer den Atlantik hoch bis unter die englische Küste. Allerdings nicht bis nach Schottland. „Daher halte ich das ganze eher für einen Zufall und sehe keinen Zusammenhang mit dem Verhalten der Gibraltar-Orcas.“

Handelt es sich wirklich um Attacken oder Rachezüge?

Bei der Berichterstattung über die Vorfälle mit Orcas in den Küstenregionen Spaniens und Portugals sprechen viele Medien von Angriffen oder Attacken (National Geographics: „Immer mehr Attacken: Warum Orcas Segelboote angreifen“). Sogar von vermeintlichen Rachefeldzügen eines einzelnen Weibchens ist die Rede (Nau: „Neue Theorie: Attackieren Orcas Boote aus Rache?“; Blick: „Killerwal Gladis bringt Artgenossen Yacht-Angriffe bei“). Bisher seien das jedoch Spekulationen, sagt Karlowski. „Ich halte das für Humbug.“

Vor allem bei Rache handele es sich um ein komplexes Verhaltensmuster. „Man muss sich an ein Ereignis erinnern, dieses auch als negativ erinnern und sich dann überlegen, was mache ich? Und dann muss dieses Verhalten einem auch eine gewisse Genugtuung verschaffen. Ob es das bei den Delfinen gibt, ist wissenschaftlich überhaupt nicht bewiesen.“

Wahrscheinlich handelt es sich um Training oder Spielverhalten

Gerade Jungtiere seien sehr neugierig und verspielt. Das würde oft überinterpretiert, sagt Karlowski. Er vermutet hinter den meisten Interaktionen, zwischen Orcas und Booten Neugierde und Spielverhalten. „Das hat sicher viel mit Spieltrieb zu tun. Vielleicht auch mit Training. Orcas haben eine sehr komplexe Jagdstrategie“, erklärt der Biologe. Um erfolgreich zu sein, müsse jeder immer genau wissen, was der andere macht. „Wie bei einem guten Fußballteam.“

Ob sich das Verhalten des Orcas in der Nordsee mit dem der Gibraltar-Orcas vergleichen lasse, sei schwer zu beurteilen, sagt Karlowski. „Im Artikel wird beschrieben, der Orca hätte das Boot geschubst, was nicht das gleiche Verhalten ist, was die Gibraltar-Orcas draufhaben“, führt der Experte aus. Das entscheidende Element, das bei diesem Vorfall fehle, sei die Interaktion mit dem Ruder. „Das Schubsen könnte also auch ganz normales Spielverhalten von jugendlichen Orcas sein, die aus Versehen mal ans Boot gekommen sind.“

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Nicht der erste Vorfall mit Orcas in der Nordsee

Dass Orcas an Schiffe stoßen, habe es immer schon gegeben, gibt Karlowski zu bedenken. Zwar nicht in der Form, wie die Gibraltar-Orcas dies machen, aber das die Tiere Schiffe schubsen, sei nicht neues. Nur habe dem vor 2020 niemand groß Beachtung geschenkt. Weil das Thema in den Medien jetzt so präsent ist, bekommen auch solche vermutlich harmlosen Zwischenfälle mit Orcas in anderen Gewässern wie der Nordsee mehr Aufmerksamkeit.

Das Einzigartige an den Vorfällen der Population der Orca Iberica ist, dass sich das Verhalten, Schiffe zu beschädigen und auch zum Kentern zu bringen, mittlerweile etabliert hat. Das sei bei so sozialen Tieren wie Orcas keine Seltenheit. „Das verselbstständigt sich dann von der eigentlichen Ursache. Wo auch immer das Verhalten mal hergekommen sein mag, hat seine Ausführung später nicht mehr unbedingt etwas zu tun“, erklärt der Biologe. Es sei eine Art Kultur, die sich da wahrscheinlich ausgebildet hat. Das habe aber auch leider zur Folge, dass das Verhalten nicht einfach wieder verschwinden werde. „Es sei denn, man nimmt den Tieren den Reiz weg.“

Dafür seien die Menschen aber zu inkonsequent, meint Karlowski. So könne man etwa einfach näher an der Küste segeln und die Navigationsgeräte ausschalten. Dann würde es ziemlich sicher zu keinen Konfrontationen mehr kommen. Aber es läge eben auch an der Einstellung der Menschen zu sagen: „Ich will da jetzt durchsegeln und mir soll nichts passieren und die Natur hat sich meinen Bedürfnissen unterzuordnen. Und wenn die Natur das dann nicht macht, wird sie mitunter auch so ‚zurecht getötet‘, damit es passt.“

Themen Meerestiere Wale
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